Uri Avnery, 2. Juni 2018

Stark wie der Tod

Oh, Gaza. Stark wie der Tod ist die Liebe.

Ich liebte Gaza. Das ist ein Wortspiel. Das biblische Lied der Lieder sagt, dass Liebe so stark ist wie der Tod. Stark auf Hebräisch ist Aza, Aza ist auch das hebräische Wort für Gaza.

Ich habe viele glückliche Stunden in Gaza verbracht. Ich hatte dort viele Freunde. Vom Linken Dr. Haidar Abd al-Shafi bis zum Islamisten Mahmoud al-Zahar, der nun Außenminister der Hamas ist.

Ich war dort, als Yasser Arafat, Sohn einer Familie aus Gaza, heimkam. Sie setzten mich in die erste Reihe beim Empfang an der Grenze in Rafah, und am Abend empfing er mich im Hotel am Strand von Gaza, und setzte mich neben sich auf der Bühne während einer Pressekonferenz.

Überall im Gazastreifen traf ich auf  eine freundliche Haltung, in den Flüchtlingslagern und in den Straßen von Gaza. Überall sprachen wir über Frieden und über den Platz, den Gaza in einem zukünftigen Staat Palästina einnehmen sollte.

Gut, aber was ist nun mit Hamas, der schrecklichen erzterroristischen Organisation ?

In den frühen 90er Jahren wies Premierminister Yitzhak Rabin 415 prominente Islamisten aus Gaza aus in den Libanon. Die Libanesen ließen sie nicht ins Land, so vegetierten die Ausgewiesenen ein Jahr lang unter freiem Himmel an der Grenze.

Wir protestierten gegen die Ausweisung und bauten ein Zelt auf gegenüber dem Büro des Premierministers in Jerusalem. Wir blieben dort 45 Tage und Nächte, einschließlich einiger Tage bei Schnee. Im Camp waren Juden und Araber, einschließlich israelisch-arabischer Islamisten. Wir brachten lange Tage und Nächte zu mit politischen Diskussionen. Worüber ? Natürlich über Frieden.

Die Islamisten waren nette Leute, sie behandelten meine Frau Rachel mit größter Höflichkeit.

Als den Exilierten schließlich erlaubt wurde zurückzukehren, gab es für sie einen Empfang in der größten Halle in Gaza. Ich war eingeladen, zusammen mit einer Gruppe von Gefährten. Ich sollte sprechen (natürlich auf Hebräisch) und danach gab es ein Bankett.

Ich erzähle das alles, um die Atmosphäre zu jener Zeit zu beschreiben. Bei allem, was ich sagte, betonte ich, dass ich ein israelischer Patriot war. Ich setzte mich für Frieden zwischen zwei Staaten ein. Vor der ersten Intifada (die am 9. Dezember 1987 begann) war Gaza kein Platz von dunklem Hass. Weit davon entfernt.


Massen von Arbeitern passierten jeden Morgen die Checkpoints, um in Israel zu arbeiten, so wie die Kaufleute, die ihre Waren in Israel verkauften, oder durchquerten Israel auf dem Weg nach Jordanien oder holten ihre Ware in israelischen Häfen.

So, auf welche Weise ist es uns gelungen – uns, dem Staat Israel –  Gaza zu dem zu machen, was es heute ist ?

Im Sommer 2005 beschloss der spätere Premierminister Ariel Sharon, alle Bande zum Gazastreifen zu durchtrennen. „Arik“, ein Soldat im Herzen, entschied, dass die Kosten der Besatzung des Streifens höher seien als der Nutzen. Er holte die Armee und die Siedler heraus und übergab den Streifen – wem ? Niemandem.

Warum niemandem ? Warum nicht der PLO, die schon als Palästinensische Autorität anerkannt war ?  Warum nicht im Rahmen einer Übereinkunft ? Weil Arik die Palästinenser hasste, die PLO und Arafat. Er wollte nichts mit ihnen zu tun haben. So verließ er den Streifen.

Die Natur verabscheut ein Vakuum. Eine Palästinensische Autorität bildete sich in Gaza. Es gab demokratische Wahlen, Hamas gewann in ganz Palästina. Hamas ist eine nationalistisch-religiöse Partei, die ursprünglich vom israelischen Geheimdienst Shin Bet gefördert wurde, um die PLO zu unterwandern. Als die PLO die Wahlergebnisse nicht akzeptierte, übernahm Hamas in Gaza die Macht mit Gewalt. So entstand die gegenwärtige Situation.

Währenddessen hatten wir noch eine positive Option.

Der Gazastreifen hätte in eine blühende Insel verwandelt werden können. Optimisten sprachen von einem „Zweiten Singapur“. Man sprach über einen Hafen in Gaza, mit der erforderlichen Inspektion aller ankommenden Güter in Gaza oder einem neutralem Hafen im Ausland. Ein Flughafen in Gaza, mit geeigneter Sicherheitsinspektion, wurde gebaut, genutzt und dann von Israel zerstört.

Und was machte die israelische Regierung ? Natürlich das Gegenteil.

Die Regierung unterwarf den Gazastreifen einer strengen Blockade. Alle Verbindungen zwischen dem Streifen und der Außenwelt wurden durchtrennt. Versorgungsgüter konnten nur durch Israel kommen. Israel erhöhte oder senkte die Einfuhr lebensnotwendiger Güter, wie es ihm beliebte. Die Affäre um das türkische Schiff Mavi Marmara, das auf blutige Weise nahe der Küste von Gaza gestürmt wurde, betonte die totale Isolation.

Die Bevölkerung von Gaza hat jetzt ungefähr zwei Millionen erreicht. Die meisten von ihnen sind Flüchtlinge aus Israel, die im 1948er Krieg vertrieben wurden. Ich kann nicht sagen, dass ich unschuldig bin, meine Armeeeinheit kämpfte im Süden von Palästina. Ich sah, was passierte, ich schrieb darüber.

Die Blockade erzeugte einen Teufelskreis. Hamas und die kleineren (extremeren) Organisationen leisteten Widerstand (oder „Terror“). Als Reaktion intensivierte Israels Regierung die Blockade. Die Bewohner von Gaza antworteten mit mehr Gewalt. Die Blockade wurde schlimmer. Und so weiter, bis zu dieser Woche.

Was ist mit der südlichen Grenze des Streifens ? Es ist ziemlich bizarr, Ägypten kooperiert mit der israelischen Blockade. Und nicht nur wegen der stillschweigenden Sympathie zwischen dem ägyptischen Militärdiktator Abd al-Fatah al-Sisi mit den israelischen Regierenden. Es gibt einen politischen Grund : Das Sisi Regime hasst die Muslim Brüder, seine verbotene Opposition, die als Mutterorganisation von Hamas betrachtet wird.

Die PLO in der Westbank kooperiert auch mit der israelischen Blockade gegen Hamas, die ihr Hauptkonkurrent innerhalb des Palästinensischen politischen Rahmens ist.

So bleibt der Gazastreifen fast völlig isoliert, ohne Freunde. Außer Idealisten in der Welt, die zu schwach sind, um etwas zu verändern. Und natürlich Hisbollah und Iran.

Nun setzt sich eine Art Gleichgewicht durch. Die Organisationen in Gaza führen Gewaltakte durch, die dem Staat Israel keinen wirklichen Schaden zufügen. Die israelische Armee hat keinen Appetit, den Streifen erneut zu besetzen. Und da entdeckten die Palästinenser eine neue Waffe : Den gewaltlosen Widerstand.

Vor vielen Jahren kam ein arabisch-amerikanischer Aktivist, Schüler von Martin Luther King, nach Palästina, um diese Methode zu predigen. Er  fand keine Interessenten und ging in die USA zurück. Dann, bei Beginn der zweiten Intifada, versuchten die Palästinenser diese Methode. Die israelische Armee reagierte mit scharfem Feuer. Die Welt sah das Bild eines kleinen Jungen, der in den Armen seines Vaters erschossen wurde. Die Armee lehnte die Verantwortung ab, wie sie es immer tut. Gewaltloser Widerstand starb mit diesem Jungen. Die Intifada forderte viele Opfer.

Die Wahrheit ist, dass die israelische Armee keine Antwort auf gewaltlosen Widerstand hat. Bei solch einer Kampagne sind die guten Karten in der Hand der Palästinenser. Die öffentliche Meinung der Welt verdammt Israel und preist die Palästinenser. Deshalb besteht die Reaktion der Armee darin, das Feuer zu eröffnen, um gewalttätige Aktionen der Palästinenser hervorzurufen. Hiermit kann die Armee umgehen.

Gewaltloser Widerstand ist eine sehr schwierige Methode. Es erfordert enorme Willensstärke, strikte Selbstkontrolle und moralische Überlegenheit. Solche Qualitäten findet man in der indischen Kultur, die einen Gandhi hervorbrachte, und in der amerikanischen Gemeinde von Martin Luther King. In der muslimischen Welt gibt es diese Tradition nicht.

Daher ist es doppelt erstaunlich, dass die Demonstranten an der Grenze zu Gaza nun diese Kraft in ihren Herzen gefunden haben. Die Ereignisse am Schwarzen Montag, dem 14. Mai, überraschten die Welt. Massen unbewaffneter Menschen, Männer, Frauen und Kinder, boten den israelischen Scharfschützen die Stirn. Sie zogen keine Waffen. Sie „stürmten nicht den Zaun“, eine Lüge des riesigen israelischen Propagandaapparats. Sie standen den Scharfschützen gegenüber und wurden getötet.

Die israelische Armee ist überzeugt davon, dass die Einwohner von Gaza den Test nicht bestehen werden, sie werden zur nutzlosen Gewalt zurückkehren. Am vergangenen Dienstag schien es so, als wäre diese Beurteilung richtig. Eine der Organisationen in Gaza führte eine „Racheaktion“ durch, indem sie hundert Mörsergranaten nach Israel schoss, ohne wirklichen Schaden anzurichten. Dies war eine nutzlose Aktion. Gewaltaktionen haben keine Chance, Israel zu verletzen. Sie liefern nur Munition für Israels Propaganda.

Wenn man über gewaltlosen Kampf nachdenkt, sollte man sich an Amritsar erinnern. Das ist der Name einer indischen Stadt, in der im April 1919 Soldaten unter britischem Kommando zehn Minuten lang ein mörderisches Feuer auf gewaltlose indische Protestierende eröffneten, wobei mindestens 379 getötet und ungefähr 1200 verwundet wurden. Der Name des Kommandierenden, Colonel Reginald Dyer, ging zur ewigen Schande in die Geschichte ein. Die britische öffentliche Meinung war schockiert. Viele Historiker glauben, dass dies der Anfang vom Ende der britischen Herrschaft in Indien war.

Der „Schwarze  Montag“ an der Grenze zu Gaza erinnert an diese Episode.

Wie wird dies enden ?

Hamas hat eine Hudna für 40 Jahre angeboten. Eine Hudna ist ein geheiligter Waffenstillstand, den kein Muslim brechen darf.

Ich erwähnte bereits die Kreuzfahrer, die 200 Jahre lang in Palästina blieben (mehr als wir, im Augenblick). Sie stimmten mehreren Hudnas mit den feindlichen Muslimstaaten in der Umgebung zu. Die Araber hielten sie streng ein.

Die Frage ist : Ist die israelische Regierung in der Lage, eine Hudna zu akzeptieren ? Wird sie dies wagen, nachdem sie die Massen ihrer Anhänger aufgehetzt und sie mit tödlichem Hass gegen das Volk von Gaza und die Hamas im Besonderen erfüllt hat ?

Wird die Regierung nicht in die Falle der Illusion geraten und glauben, dass Hamas zusammenbricht, wenn die Einwohner von Gaza am Ersticken sind, ohne medizinische Versorgung, ohne genug Nahrung, ohne sauberes Wasser, ohne Elekrizität ?

Das wird natürlich nicht passieren. Wie wir in unserer Jugend sangen : „Kein Volk zieht sich aus dem Schützengraben seines Lebens zurück !“

Wie die Juden jahrhundertelang bewiesen, gibt es keine Grenze darin, was ein Volk erleiden kann, wenn seine Existenz auf dem Spiel steht.

Das erzählt uns die Geschichte.

Mein Herz ist beim Volk von Gaza.

Ich wünsche mir, es um Vergebung zu bitten, in meinem Namen und dem Namen von Israel, meinem Land.

Ich sehne mich nach dem Tag, an dem sich alles ändert, den Tag, an dem eine weisere Regierung einer Hudna zustimmt, die Grenze öffnet und das Volk von Gaza in die Welt zurückkehren lässt.

Nun, ich liebe Gaza, mit der Liebe, von der die Bibel sagt, sie sei stark wie der Tod.


(Aus dem Englischen übersetzt von RH)